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Artikel in der Welt am Sonntag vom 2.12.2001

Der Segelmacher von St. Pauli Die letzten Kap Horniers

Mit 85 Jahren fuhr Reinhold Heinemann noch einmal nach Kap Hoorn – um Abschied zu nehmen. Wenige Tage später war er tot

Von Svante Domizlaff und Peter Geller

Im warmen Sonnenschein, der sich wundersamer Weise an diesem Novembermorgen über die Insel Kap Hoorn ergießt, steht einsam ein alter Mann an den Klippen und blickt hinunter auf das Meer. Auf dem Kopf trägt er eine Prinz-Heinrich-Mütze mit dem Albatros-Abzeichen der Kap Horniers. Eine schlichte grüne Jacke schützt ihn, die graue Hose flattert im Wind. Es ist Reinhold Heinemann, 85 Jahre alt, auf St.Pauli geboren und aufgewachsen, von Beruf Segelmacher. "Ich bin mit Elbwasser getauft. Was bleibt da übrig, als dass man zur See geht?", sagt er.

Kap Hoorn hat Heinemann an Bord der Viermastbark "Priwall" zweimal umrundet. Aber das ist 64 Jahre her. "Die Insel haben wir damals gar nicht zu sehen bekommen. Beim Aufkreuzen gegen den Westwind waren wir nämlich weit nach Süden gekommen, bis an den Rand der Antarktis. Das war kalt und mühsam. Ich hab mir Frostbeulen an den Händen geholt." Diese großen, von einem langen Arbeitsleben gezeichneten Hände haben eine Haut wie Pergamentpapier. Als hätte ein Leben voller Stürme sie abgeschliffen.

Heinemann hat sich an diesem Morgen abgesondert von den Kap-Hoorn-Kameraden. Er ist den verwitterten Holzbohlenweg über dem harten Gras hinauf zum Seefahrerdenkmal mit dem Albatros geklettert, langsam, in seinem etwas unsicher gewordenen "ondulierten Gang", wie er ihn nennt. "Meine Nase läuft schneller als ich", sagt er.

Oben am Kliff schweigt er lange und meint schließlich nachdenklich: "Es ist gar nicht zu fassen, dass ich jetzt auf dieser Insel stehe, der wir immer möglichst weit aus dem Weg gegangen sind."

Damals vor Kap Hoorn, vor mehr als einem Menschenalter, da war das so: "Ich hatte auf der "Priwall" angemustert, einer dieser Hamburger Viermastbarken, die für Kap Hoorn gebaut waren. Unser Kapitän Hauth war bei der Reederei gar nicht so gut angesehen, weil er auf seinen letzten Reisen ein bisschen unpünktlich war. Aber auf der Ausreise nach Pablon de Pica in Chile ist zunächst nicht viel passiert."

"Auf der Heimreise ging der Tanz los. Ein Segel nach dem anderen flog uns davon. Vor Kap Hoorn standen vier Mann am Ruder und zehn Mann waren auf der Rah, um die Segel festzumachen. Das hat Stunden gedauert. Kaum bekamen wir einen Zipfel zu fassen, das riss er uns wieder aus der Hand. Beim Absteigen aus dem Mast erwischte mich mal ein Brecher. Ich wurde mitgerissen und gegen eine Windhutze geschleudert, wo ich mich gerade noch festhalten konnte. Sonst wär' ich über Bord gewesen."

"In einer einzigen Böe zerrissen dann zwölf Segel auf einmal. Ich musste Tag und Nacht arbeiten, die halbe Freiwache half bei der Reparatur. Mit den kleinen Segeln haben wir angefangen und uns dann am Mast langsam nach unten gearbeitet, bis zu den großen Segeln. So ist Kapitän Hauth wieder keine schnelle Reise gelungen."

"Die nächste Reise durfte ich leider nicht mehr mitmachen, weil ich zum Arbeitsdienst sollte. Ausgerechnet in diesem Jahr hat die "Priwall" mit Kapitän Hauth Kap Hoorn in fünfeinhalb Tagen umsegelt. Der Rekord wurde niemals gebrochen. So kann das gehen. Wasser hab' ich in meinem Leben genug gesehen."

Reinhold Heinemann hat immer als Segelmacher gearbeitet. Zuletzt ist er Spezialist für Taubenabwehrnetze in der Hamburger Innenstadt gewesen. "Auch am Rathaus, war echte Qualitätsarbeit", bekräftigt er. Ganz nebenbei hat der Segelmacher für seine Familie zwei Wohnhäuser gebaut, mit eigener Hand, in Osdorf.

Vorletztes Jahr ist seine Frau gestorben, nach 60 Jahren Ehe. "Mittwoch hat sie sich noch die Haare machen lassen. Donnerstag war sie kegeln und hat eine Neun geworfen. Freitag war sie tot." Heinemann klagt nicht, er stellt nur fest. Denn was hilft es sich gegen das Schicksal aufzulehnen? Das lernt man auf See. So ist er eben allein nach Kap Hoorn gereist.

Es ist Zeit aufzubrechen. Auf dem Weg zum Strand bleibt Heinemann ab und zu stehen und pfeift ein Lied durch seine gespitzten Lippen. Vielleicht holt er auch nur tief Luft.

Ganz zerbrechlich wirkt er plötzlich.

Auf der Rückreise in den Hafen von Punta Arenas ist der Segelmacher noch etwas stiller als sonst. Er hat Fieber, aber einen Arzt? "Brauche ich nicht, hatten wir damals auch nicht." Ein Schluck Schnaps oder Rum, das reichte als Medizin.

Beim Abschlussabend im pompösen Kasino der Marine in Chiles Hauptstadt Santiago ist es dann so weit. Heinemann hat aus Holz, Tauwerk und Farben eine Tafel mit Kap-Hoorn-Motiven geschaffen, die Nachbildung einer von Chile herausgegebenen Briefmarke, ein Geschenk an die Gastgeber.

Der Segelmacher glüht. Ist es der Wein oder die Freude über das Lob seiner Kameraden oder schon die ausbrechende Lungenentzündung?

In der Nacht singen die Kap Hoorniers noch ein Mal gemeinsam "Rolling Home ". Das ist ihre Hymne. Dann fahren sie nach Hause, denn nun ist alles vorbei: Kap Hoorn liegt weit, vergangen ist die Zeit der Segelschiffe, keine Arbeit mehr für Segelmacher.

Reinhold Heinemann hat innerlich schon Abschied genommen. Vier Tage später ist er tot. Die Ärzte sagen, es war die Lunge. Aber was wissen Ärzte schon von Kap Hoorn?

Hier finden Sie diesen Artikel auch im Online-Archiv der Welt am Sonntag:

http://www.welt.de/daten/2001/12/02/1202h1299588.htx

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